Die beste und sinnvollste Zeit meines Lebens
Von Fritz Lehmann
«Jugend ist eine Krankheit, die sich selbst kuriert» lautet ein welsches Sprichwort. Mein Arzt war konträrer Ansicht: «Wenn Sie so weiter malochen, werden Sie die Pension nicht gesund erleben!» Ich verstand den Fingerzeig und quittierte meinen Posten als Polizeikommandant, der ich lange, leidenschaftlich und erfolgreich gewesen war. Ich war bereit dazu, denn ich hatte mir rechtzeitig Gedanken über meinen nächsten Lebensabschnitt gemacht.
Das wichtigste Projekt sollte vorerst ich selbst sein, und daher schob ich einen Riegel zwischen altem und neuem Leben. Mit meiner Frau zusammen verbrachte ich den Sommer in Finnland, inmitten von Wald und Wasser. Ein einfaches Leben, aufs Wesentliche beschränkt. Ich liess Seele und Körper ihren Willen und stellte fest, dass sie etwas ganz anderes wollten, als ich ihnen früher aufgezwungen hatte. Meine Werte hatten sich gewandelt.
Wertewandel? Ich war lange eine Person öffentlichen Interesses gewesen, ein ganz Wichtiger also, zumindest lokal. Macht mir das nun geschrumpfte Interesse an meiner Person zu schaffen? Ein wenig schon; indes hat sich auch die Spreu vom Weizen getrennt und nur die soliden Bekanntschaften sind geblieben. Ehrlich, gern verzichte ich auf das um mich Herumscharwenzeln von Politikern und Mitarbeitenden, die auf Vorteile bedacht sind. Wertewandel? Mehr als das - eine Wertsteigerung!
Familie und Freunde habe ich neu entdeckt, meine Rückzugsräume sind jetzt Garten, Werkraum und meine kaum genutzte Berghütte. Meine Bienen erhalten die verdiente Aufmerksamkeit, und ich sage es mit Augenzwinkern: Die Käsesorten, die ich entwickle, bringen das hiesige kulinarische Entwicklungsland voran. Früher konnte ich den Begriff «Quality Time» im Kopf wohl nachvollziehen, doch jetzt hat ihn auch das Herz erfasst. Und das Herz ist stärker als der Kopf, sehr viel stärker!
Bin ich jetzt egoistisch? Gehöre ich zu denen, welche die Pensionskassen plündern? Zu den Mühsamen, die die Sitzplätze im Zug zu Stosszeiten belegen? Zu den Besserwisser-Leserbriefschreibern? Nein, meine Ich-AG ist das Gegenteil ihres Namens: Ich engagiere mich sozial und für den Nachwuchs. Erwachsenenbildung hat mich immer gepackt, ich entwickle Bildungsangebote, doziere und erledige Vereinsarbeit. Nebenbei leite ich Studienreisen und vermittle Wissen. Darin finde ich Sinn.
Die Sinnfindung ist eines der zentralen Themen der Nichtmehrberufstätigen, und in diesem Punkt werden wir falsch eingeordnet, völlig falsch. Die Gesellschaft tut gut daran zu erkennen, dass die Nichtmehrberufstätigen nebst Inhalts- und Berufswissen auch Hintergrundwissen, Kreativität und Weisheit ins gesellschaftliche Spiel bringen. Künstliche Intelligenz wird diese Eigenschaften noch lange nicht aufweisen. Hinzu kommt, dass wir IT-affin sind, keine «Native Users» zwar, aber wir haben unsere Endgeräte im Griff. Entscheidend: Wir haben noch gelernt, IT-unabhängig zu denken und zu handeln. Wer kann das noch in ein paar Jahren? Diese Fähigkeiten werden wieder gefragt sein, spätestens, wenn der Strom ausfällt.
In Finnland lernte ich mehrere Nichtmehrberufstätige kennen. Ein "sehr spät Doktorierter" gehörte dazu, er ist Historiker, Künstler und Kleinbauer. Einer mit Hintergrundwissen, kreativ und menschlich. Seine Lebensweisheit hat er vermutlich beim Melken formuliert: «Jetzt ist die beste und sinnvollste Zeit meines Lebens!». Voilà, jetzt bin ich auch soweit!