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Warum wir leiden: Die Illusion der Kontrolle und der Weg zur Freiheit - ohne Spiritualität, rein mit Neurowissenschaft

Von Benjamin Bargetzi

Leiden gehört unweigerlich zum Menschsein. Doch die Ursache dieses Leidens liegt nicht in der äußeren Welt selbst, sondern in der Art und Weise, wie der menschliche Geist sie wahrnimmt und bewertet. Die Neurowissenschaft zeigt, dass unser Gehirn, auf der Suche nach Sicherheit und Kontrolle, die Realität permanent vereinfacht und verzerrt. Diese Prozesse, die uns helfen sollen, die Welt zu verstehen, führen paradoxerweise dazu, dass wir uns in Denkmustern verfangen, die das Leiden verstärken. Es ist die Illusion der Kontrolle, die den Menschen am meisten gefangen hält: der Glaube, er könne die Dinge im Außen beherrschen, während das Chaos der Welt unaufhaltsam weiterläuft. 

Im Kern entsteht Leiden, wenn das Gehirn in einen Alarmzustand gerät. Die Amygdala, das Zentrum für Angst und Stress, reagiert übermäßig auf Unsicherheit und Bedrohung – selbst auf Situationen, die keine tatsächliche Gefahr darstellen. Das Resultat ist ein Zustand chronischer Erregung: Der Cortisolspiegel, das zentrale Stresshormon, steigt an, während der präfrontale Kortex, jener Bereich, der für rationale Entscheidungen und emotionale Regulation zuständig ist, seine Funktion verliert. Das Gehirn wird zum Schauplatz permanenter Sorge. Negative Gedanken kreisen unaufhörlich, befeuert durch kognitive Verzerrungen wie den Confirmation Bias – die Tendenz, nur das wahrzunehmen, was bestehende Überzeugungen stützt – oder das Catastrophizing, bei dem negative Folgen überbewertet werden. Diese Verzerrungen, evolutionär zum Schutz entwickelt, versetzen uns heute in einen Zustand dauerhafter Belastung, der biologisch wie mental zerstörerisch ist. 

Der Weg zur Freiheit liegt nicht im Kampf gegen die äußere Welt, sondern in der Beherrschung des eigenen Geistes. Die Neurowissenschaft lehrt, dass Kontrolle dort beginnt, wo der Mensch seinen Fokus auf das lenkt, was tatsächlich in seiner Macht liegt: die eigenen Gedanken, Bewertungen und Reaktionen. Wer lernt, seine Gedanken bewusst zu steuern und die Situation neu zu bewerten, verändert seine emotionale Realität. Dieser Ansatz, bekannt aus der kognitiven Verhaltenstherapie, zeigt nachweislich, wie der präfrontale Kortex gestärkt und die überaktive Amygdala beruhigt wird. Statt in hilfloser Reaktion zu verharren, gewinnt der Mensch die Fähigkeit, seine Wahrnehmung zu hinterfragen: „Ist es wirklich so schlimm, wie es scheint? Was liegt in meiner Kontrolle?“ Diese einfachen Fragen öffnen den Weg zu einem Zustand innerer Klarheit und emotionaler Stabilität. 

Die Resilienzforschung ergänzt diese Erkenntnisse. Menschen, die besser mit Krisen umgehen, besitzen drei Fähigkeiten: Akzeptanz – die Bereitschaft, das Unkontrollierbare loszulassen; Optimismus – der Glaube an Möglichkeiten statt an Verlust; und Flexibilität – die Fähigkeit, Denkmuster und Handlungen anzupassen. Resilienz ist kein angeborenes Talent, sondern ein trainierbarer Zustand. Achtsamkeitstechniken, reflektiertes Denken und gezielte Stressbewältigung fördern die neuronalen Netzwerke, die Gelassenheit und Kontrolle über den inneren Zustand ermöglichen. 

Freiheit, so zeigt die Neurowissenschaft, liegt nicht in der Beherrschung der äußeren Welt, sondern in der Fähigkeit, die eigene Reaktion zu wählen. Das Gehirn passt sich diesem Wandel an: Wer die Kontrolle über seine Gedanken zurückgewinnt, formt neue neuronale Muster, die den Weg aus dem Leiden bahnen. Die äußere Welt mag chaotisch und unvorhersehbar bleiben – die Worte anderer, der Verlust, das Unbekannte. Doch wer innere Souveränität erlangt, bleibt unerschütterlich. Der Geist wird zum ruhigen Anker inmitten des Sturms. 

Die Illusion der Kontrolle über das Äußere loszulassen, ist der erste Schritt zur wahren Freiheit. Es ist ein Paradox: Je mehr wir unseren inneren Zustand beherrschen, desto weniger Macht haben die äußeren Umstände über uns. Leiden löst sich nicht in Luft auf, doch es verliert seine Macht. In der Klarheit des kontrollierten Geistes findet der Mensch, was er so lange im Außen gesucht hat – Ruhe, Klarheit und die Fähigkeit, das Leben in seiner ganzen Unvorhersehbarkeit anzunehmen. Denn in der Freiheit des Denkens liegt die größte Kraft, die der Mensch besitzt.