Ruhestand kommt nicht in Frage
Von Carl Baudenbacher
Ich war viele Jahre Richter und Präsident des EFTA-Gerichtshofs, zuerst in Genf und dann in Luxemburg, und hatte Professuren und Gastprofessuren in der Schweiz, in Deutschland, den USA, Island und England inne. Der EFTA-Gerichtshof ist das Gericht der drei EFTA-Staaten Island, Liechtenstein und Norwegen im EWR. Ich war – als Schweizer – der von Liechtenstein nominierte Richter. Der EFTA-Gerichtshof ist das einzige Gericht mit allgemeiner Zuständigkeit, dessen Urteile vom Gerichtshof der Europäischen Union bei der Auslegung des EU-Rechts berücksichtigt werden. Bevor ich Richter wurde, war ich auch als Schiedsrichter und als Berater von Regierungen und internationalen Organisationen tätig. Derzeit bin ich Partner in einer schweizerisch-norwegischen law firm und habe eine Gastprofessur an der London School of Economics LSE. Ich betrachte mich als Generalisten, aber ein besonderes Interesse hatte ich stets an der Erledigung von Streitigkeiten.
Unsere Tochter Laura Melusine, seit 1. Januar 2023 Präsidentin der Schweizerischen Wettbewerbskommission, hat in einem Interview mit der „Bilanz“ unlängst gesagt, ihre Eltern seien stets etwas „abenteuerlich unterwegs“ gewesen, sie hätten sich bewusst entschieden, in verschiedenen Ländern zu leben. Das trifft zu, und es hat ein hohes Lebenstempo mit sich gebracht. Für Gedanken an die Vergänglichkeit war da, jedenfalls bei mir, wenig Zeit. Das hat sich erst nach einem Unfall in diesem Frühjahr geändert, der zum Glück ohne bleibende Folgen geblieben ist.
Was sich nicht geändert hat, ist mein Wille, so lange aktiv zu bleiben, wie es meine Gesundheit erlaubt. Meine Mutter war in ihrem zweiten Leben Antiquitäten- und Kunsthändlerin. Sie hat allein gelebt, mein Vater war früher verstorben. Mit 91 Jahren hat sie, wie schon öfter, einen Herzanfall gehabt, hat ein paar Sachen gepackt, ein Taxi bestellt und ist ins Spital gefahren, wo sie zwei Tage danach gestorben ist. Am Tag des Herzanfalls hatte sie ihren letzten Verkauf getätigt.
Niemand hat den Willen, so lange zu arbeiten wie möglich, besser beschrieben als der Pulitzer-Preisträger und New York Times-Kolumnist William Safire. Seine letzte Kolumne für die Times vom Januar 2005 trug den Titel „Never Retire“. Die beiden letzten Absätze lauten:
„Die Medizin und die Genetik werden mit Sicherheit unsere Lebensspanne verlängern. Ebenso sicher wird die Neurowissenschaft die geistige Beweglichkeit der Älteren ermöglichen. Niemand sollte es versäumen, aus den kommenden körperlichen und geistigen Gaben Kapital zu schlagen.
Wenn man damit fertig ist, sich zu verändern, zu lernen, daran zu arbeiten, dabei zu bleiben - erst dann ist man fertig. ‚Never Retire!‘“
William Safire hat sich nie zur Ruhe gesetzt, und er hat uns alle ermutigt, uns nie zur Ruhe zu setzen. Ich habe nach meinem Rücktritt vom Amt des Präsidenten des EFTA-Gerichtshofs auf die andere Seite der Schranken gewechselt. Jetzt bin ich Partner der ersten schweizerisch-norwegischen law firm Baudenbacher Kvernberg. Wir beraten und vertreten Klienten in ganz Europa in Fragen des Wirtschaftsrechts. In Norwegen sind wir auf Sammelklagen gegen den (starken) norwegischen Staat spezialisiert. Ich bin überdies „door tenant“ bei Monckton Chambers in London. Im Rahmen meiner Gastprofessur an der LSE konzentriere ich mich auf meine europarechtlichen Lieblingsgebiete, Überwachung und gerichtliche Kontrolle. Ich war zwar nie Politiker, aber ich war immer ein „political animal“. Es ist daher natürlich, dass mich ich auch an der Debatte um den Abschluss eines Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU beteilige. Ich halte die Politik der Mehrheit des Bundesrates, welche die bilateralen Verträge der faktischen Überwachung durch die EU-Kommission und der Jurisdiktion des EuGH unterstellen will, für vollkommen verfehlt. Den Jahrtausende alten Grundsatz „nemo iudex in causa sua“ (niemand kann Richter in eigener Sache sein) darf eine alte, wirtschaftlich erfolgreiche, Demokratie nicht über Bord werfen. Wenn ein solches Vertragswerk zustandekommen sollte, so müsste es in einem Referendum abgelehnt werden.
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