Alter umarmen!
Von Christoph Sigrist
In den ersten Monaten dieses Jahr nahm ich die Abschiedstour im Zusammenhang mit meiner Demission als Pfarrer am Grossmünster Zürich unter die Füsse. Ich wurde von Zeitung zu Zeitung, von Radio zu Fernsehen gereicht. Ein journalistischer Splitter, der unabhängig der vielfältigen Medienlandschaft aus dem gleichen Holz geschnitzt, sprang mir in den unendlich vielen Interviews immer wieder entgegen: „Sie sind ja noch nicht alt, warum treten Sie zurück?“
Ein Fächer von Fragen öffnete sich mir beim Zuhören: Warum glaubt die mediale Öffentlichkeit, dass Mann und Frau mit gut sechzig Jahren noch nicht „alt“ sind? Wann beginnt denn für die öffentlich kommunizierte Meinung das „Altsein“? Ist das Zurücktreten zugunsten einer jüngeren Kraft und zugunsten eines weniger hektischen Arbeitslebens im „dritten Lebensalter“ zwischen sechzig und achtzig Jahren in unserer westeuropäischen Kultur nicht opportun, verpönt oder gar moralisch verwerflich?
Zu diesem Fächerkatalog von Fragen zum Alter, für den Innovage ein grosses Sensorium besitzt, ein persönlicher Gedankensplitter: Ich erlebe in der Begleitung von älteren und hochbetagten Menschen in Seelsorge und Diakonie eine eigentümliche Abwehr gegen das, was mit „Altsein“ „Altwerden“ beschrieben wird. Hatte ich vor zwanzig Jahren noch „Altersnachmittage“ zu gestalten, waren es vor zehn Jahren Seniorinnen- und Seniorennachmittag. Jetzt hatte ich „Themennachmittage“ im Programm. Statt „alte Menschen“ hätte ich auf der Kanzel von „älteren Menschen“ zu predigen, das sei weniger diskriminierend, so korrigierten ältere Frauen und Männer mich nach dem Gottesdienst.
Dem Sprachgebrauch des Wortes „alt“ entsprechen die Gespräche über Gott und Welt bei meinen Besuchen. Da wird mir erzählt, wie aktiv man bis ins hohe Alter noch ist: Fitness alle zwei Tage, den Engadiner-Marathon schon seit Jahrzehnten, Altersuniversitäten und Denkwerkstätten jede Woche. „Herr Pfarrer, Sie können nicht lange bleiben, ich habe zu tun.“ Dazu kommt, dass sich mir Lebensläufe alter Menschen bei Beerdigungen und Staatsbegräbnissen wie ein Tagebuch für ein „Anti-Aging“ Fitness-Buch präsentieren. Mit Teufel komm raus – so scheint es mir – wird ausgeblendet, überschrieben und verhindert, dass jedes Leben zerbrechlich ist, schwächer und älter wird, krank und kränker, ja, dass jedes Leben geboren wird und deshalb auch jedes Leben sterblich ist.
Ich habe in meinen Jahrzehnten als Armeeseelsorger gelernt, dass ich am besten mit Vorbild führen kann. Ich war bei den Schlussübungen immer an vorderster Front, bei den Grenadier-Truppen genauso wie bei der Train-Kompanie, bei den Kranken wie auch bei denen im Gefängnis. Und so ist in jeder Faser meines beruflichen und biografischen Holzes eingeschnitzt, dass ich auch bei meinem eigenen Übergang ins nächste Alter mit Vorbild zu führen habe.
Es geht meines Wissens im Leben bei jeder Schwelle darum, das jeweilige Alter zu umarmen. Dieses Bild, Alter, Schmerz und Zerbrechlichkeit zu umarmen, habe ich in Riten christlicher Mystik und buddhistischer Zen-Tradition kennengelernt. Wer umarmt, lässt los. Wer loslässt, vertraut, im Verlieren von Altem Neues zu finden.
Loslassen ist eine Wirkung von Vertrauen. Im Vertrauen darauf, dass ich loslassen darf, um Neues zu finden, werde ich in einen Resonanzraum voller himmlischer Klänge gezogen. Vertrauen und Glauben sind dasselbe. Der christliche Glaube ist stark im Loslassen. Altwerden heisst für mich deshalb, üben, üben und noch einmal üben loszulassen. Es kann sein, dass ich beim allerletzten Loslassen, beim Sterben, von eigentümlichen Klängen wie aus einer anderen Welt überrascht werde. In diesem Klangmeer spiegelt sich in der Melodie des Totentanzes auf Erden die Stimmen des Lebenstanzes im Himmel. Für dieses eine Mal gelingt es mir unverfügbar und nicht machbar, dass ich auch loslassen kann, mein Alter zu umarmen. Ein anderer umarmt mich jetzt. Gott selbst beginnt, mit mir zu tanzen.
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