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Die Alten stechen die Jungen aus

Von Jean-Daniel Gerber

Der Titel klingt provokativ, schliesslich hat die ältere Generation den Wohlstand der Schweiz erwirtschaftet. Ist dem heute noch so? Die 13. AHV-Rente wird von den jüngeren Generationen finanziert. Für sie wird es schwierig, Wohneigentum zu erwerben. 61 Prozent der Älteren sind nicht bereit, ihr Vermögen vorzeitig zu vererben. Der Höhepunkt der geburtenstarken Jahrgänge wird 2029 erreicht. Dann wird es in der Schweiz rund 30 Prozent mehr 65-Jährige als 20-Jährige geben. Das Gewicht der Rentnerinnen und Rentner bei Abstimmungen wird weiter zunehmen. Das Einkommen der Jungen dürfte durch steigende Beiträge zur Finanzierung der Sozial- und Vorsorgeversicherungen sinken.

Junge Menschen haben das Gefühl, die Zukunft nicht mitgestalten zu können. Entsprechend sinkt ihr Vertrauen. Über 55-Jährige sind zufriedener als Jüngere. Dies zeigt sich auch im gesellschaftlichen Leben: Ältere Generationen bewahren eher die nationale Identität und betonen die Besonderheiten des Schweizer Modells. Jüngere Generationen identifizieren sich stärker als Europäer und sind enger mit den EU-Mitgliedsländern verbunden. Ältere Generationen betonen Neutralität und Unabhängigkeit. Die Jüngeren sind mit der Globalisierung und der europäischen Vernetzung aufgewachsen und sehen sich als Teil des europäischen Kontinents.

Veränderungen sind schwer zu erreichen. Die Pensionierten beurteilen Neuerungen nach ihren eigenen Interessen und nicht nach den Interessen der Jungen. Drei Beispiele aus den letzten Jahren, bei denen die Stimmenanteile der älteren und jüngeren Generation besonders weit auseinander lagen: 13. AHV-Revision, Begrenzungsinitiative, CO2-Gesetz.

In den nächsten Jahren stehen der Schweiz wichtige Abstimmungen bevor, vor allem zu Europa: 
- die Nachhaltigkeitsinitiative oder «Kündigungsinitiative», weil sie die Kündigung der Personenfreizügigkeit vorsieht,

- die Neutralitätsinitiative oder «Pro-Putin-Initiative», weil sie Massnahmen gegen einen Aggressor erschwert oder gar verbietet,

- die Grenzschutzinitiative oder die "Anti-Schengen-Initiative", weil sie dem im Schengener Abkommen vorgesehenen erleichterten Grenzübertritt widerspricht,

- die Kompass-Initiative oder "Verhinderungsinitiative", weil sie den heute direktdemokratisch beschränkten Handlungsspielraum von Regierung und Parlament noch mehr einschränkt.

Alle vier Initiativen belasten die wichtigste kommende Europa-Abstimmung, nämlich über die neuen Verträge mit der EU, und stellen deren Annahme in Frage. Ist das gar die eigentliche Absicht der Europagegner?

1992 haben die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gegen den EWR-Beitritt gestimmt, die ältere Generation mehrheitlich dagegen, die jüngere tendenziell dafür. Die Folge des damaligen Nein: Das Verhältnis zu unserem wichtigsten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Partner, zur Wertegemeinschaft Europa, blieb über Jahre ungeklärt und ist heute mehr belastet als je.

Wird die ältere Generation weiterhin ihre Besitzstandwahrung als Massstab ihrer Entscheide machen und das Engagement der Jungen für ein starkes Europa erneut in einer Abstimmung torpedieren?

Jean-Daniel Gerber 
Ehm. Staatssekretär (SECO)